Sachverständigenanhörung im Bundestag

Wir sind für den pädagogischen Mehraufwand – und gegen die Kostenheranziehung!

Nachdem mit Inkrafttreten des KJSG im Juni 2021 die Kostenheranziehung für junge Menschen in der Jugendhilfe von 75% auf 25 % gesenkt wurde, soll sie im nächsten Schritt (wie von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt), endgültig ganz abgeschafft werden.

Am 10. Oktober 2022 fand im Rahmen des Familienausschusses eine Sachverständigenanhörung im Bundestag zum dazu vorliegenden Gesetzentwurf statt. Auch der Careleaver e.V. durfte als einer von zehn Sachverständigen seine Stellungnahme dazu abgeben.

Wie Laurette Rasch, die den Careleaver e.V. bei der Anhörung als Sachverständige vertrat, gleich zu Beginn ihrer Stellungnahme hervorhob, bedeutet es uns als bundesweite Selbstvertretung von Careleavern viel, im Rahmen dieser Anhörung als Sachverständige unsere Meinung zum Gesetzentwurf vorbringen zu dürfen. Dass wir diesen ohne Vorbehalte begrüßen und für die 100 prozentige Abschaffung der Kostenheranziehung sind, dürft denn auch niemanden verwundert haben, denn der Careleaver e.V. hat sich seit seiner Gründung genau dafür mitunter stark gemacht.

Mit dieser Einstellung stand der Careleaver e.V. keinesfalls allein. Im Gegenteil. Insgesamt wurde das Vorhaben von den Sachverständigen überwiegend als „richtiger Schritt“ bezeichnet. Allerdings kritisierten mehrere Sachverständige, auch der Careleaver e.V., dass der bisherige Gesetzentwurf diejenigen nicht miteinschließt, die eine geförderte Ausbildung absolvieren.

Dies widerspricht unserer Meinung nach dem im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) verankerten Inklusionsgedanken, demzufolge die Kinder- und Jugendhilfe gleichermaßen für junge Menschen mit und ohne Behinderungen gelten und diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen soll. Auf die möglichen Folgen dieser Ungleichbehandlung haben wir (und andere Sozialverbände) bereits in unserer Stellungnahme vom 01.06.2022 hingewiesen.

Mehr Geld = pädagogischer Mehraufwand?

Gegen die Abschaffung wurden aber auch Argumente vorgebracht, die wir so nicht nachvollziehen können. Z.b. wurde von zwei Sachverständigen kritisiert, dass eine vollständige Abschaffung der Kostenheranziehung die Verselbständigung der Jugendlichen sogar erschweren würde, weil sie dann erst nach ihrem Auszug aus der Jugendhilfe lernen müssten, mit ihrem Gehalt auch ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es wurde sogar in den Raum gestellt, ob die Neuregelung dazu führen könnte, dass junge Menschen es vorziehen, in der Jugendhilfe zu bleiben, anstatt auszuziehen.

In diesem Zusammenhang wurde auch die Befürchtung geäußert, dass auf die Mitarbeiter*innen der Einrichtungen bei vollständiger Abschaffung der Kostenheranziehung ein „pädagogischer Mehraufwand“ zukäme. Weil sie die jungen Menschen durch das „Mehr“ an Geld, das ihnen durch den Wegfall der Heranziehung zur Verfügung steht, auch pädagogisch „mehr“ begleiten müssen. Vor allem hinsichtlich der Frage, wie sie sinnvoll mit diesem Geld umgehen.

Kostenheranziehung = finanzielle Bildung?

Wie Laurette Rasch in ihrem Statement klarmachte, sieht der Careleaver e.V. in der Kostenheranziehung ganz sicher nicht ein geeignetes Instrument, um jungen Menschen, die in der Jugendhilfe aufwachsen, einen angemessenen Umgang mit Geld zu vermitteln. Im Gegenteil. Vor dem Hintergrund der besonderen Biografien und der Lebensbedingungen, die ursächlich für das Aufwachsen in stationärer Jugendhilfe waren, ist die Kostenheranziehung vielmehr eine weitere Hürde und keine Unterstützung zur selbständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung.

Tatsächlich aber würden wir uns wünschen, dass junge Menschen vor ihrem Übergang in die Selbständigkeit mehr Unterstützung bekommen, was ihr Wissen über Finanzen, den Umgang mit Geld, Versicherungen oder Schulden betrifft.

Seit 2020 unterhält der Careleaver e.V. einen Notfallfonds. Mit den dafür eingeworbenen Spenden unterstützt der Verein Careleaver, die durch ihren Übergang aus der Jugendhilfe in die Eigenständigkeit Gefahr laufen, in eine finanzielle Schieflage zu geraten. Klassisch ist die Situation, dass zwischen Jugendhilfe und der Aufnahme eines Studiums oder einer Ausbildung eine finanzielle Lücke entsteht. Das Bafög ist zwar beantragt, aber noch nicht bewilligt. Der Wohngeldantrag zwar ausgefüllt, aber eben noch keine Auszahlung auf dem Konto angekommen.

Diese Lücken haben für Careleaver teilweise dramatischen Folgen. Denn, auch darauf machte Laurette Rasch aufmerksam, sie haben im Vergleich zu ihren gleichaltrigen Peers oft kein soziales Netz, das ihnen schnell und unkompliziert bei unvorhergesehenen Mehrausgaben unter die Arme greifen kann.

Daneben erreichen uns über den Notfallfonds aber auch Anträge von jungen Menschen, die tatsächlich dringend Unterstützung im Umgang mit ihren Finanzen brauchen. Wir haben deshalb unser Beratungsangebot ausgeweitet, so dass wir über den Verein diesen Menschen eine umfassende Beratung anbieten können. Von der Frage, wo und wie kann ich Hilfe bekommen bis zu, wie gehe ich mit Schulden um und sorge dafür, dass sie nicht größer, sondern kleiner werden

Stärkung des Leaving Care darf keine Floskel sein

Wer es ernst meint, mit einem besser gestalteten Übergang aus der Jugendhilfe in die Selbständigkeit, wer sich „Leaving Care“ nicht nur auf die Fahnen schreibt, sondern damit verbindet, dass dieser Übergang künftig besser vorbereitet und begleitet wird, der sollte in diesem „pädagogischen Mehraufwand“ kein Hindernis, sondern vielmehr eine Chance für eine bessere Finanzbildung und mehr Gestaltungsspielräume für angehende Careleaver sehen. Und dieses Lernfeld wird durch die real verfügbaren Mittel auch noch richtig interessant. Wir stellen uns vor, dass die Chance, aus dem verwalteten Mangel echte Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand zu bekommen, eine große Motivation erzeugt, um sich mit diesem Thema verantwortungsvoll zu beschäftigen.

Wir sind deshalb genauso entschieden gegen die Kostenheranziehung wie für den pädagogischen Mehraufwand. Weil es in der Tat nicht einfach nur um mehr Geld geht, sondern um mehr Wertschätzung, mehr und bessere Finanzbildung, mehr Gestaltungsspielraum für Careleaver.

Wir stellen uns junge Menschen vor, die sich mit ihren Betreuer*innen darüber Gedanken machen können, wofür sie nach ihrem Auszug Geld brauchen und wie sie das jetzt verdiente Geld für diese Zeit anlegen und ansparen können.

Weg mit der Kostenheranziehung, und her mit dem pädagogischen Mehraufwand

Die von den Kritikern vorgebrachten Argumente gegen eine Abschaffung der Kostenheranziehung sind für uns deshalb vielmehr gute Gründe dafür, diesen Schritt endlich auch zu machen. Wenn es zu „pädagogischem Mehraufwand“ von Seiten der Jugendämter und der Einrichtungen führt und junge Menschen künftig finanziell besser geschult werden, UMSO BESSER!

Dem Mehraufwand stünden übrigens mögliche Einsparungen hinsichtlich des Verwaltungsaufwands zur Kostenheranziehung sowie auch weniger Diskussionen mit jungen Menschen über das Warum der Heranziehung, oder über die Ungleichbehandlung gegenüber: Tür an Tür wohnen junge Menschen z.B . mit Ausbildungsgeld (100%), jemand mit Ausbildungsgehalt (25%) und jemand mit FSJ (0% Heranziehung).

Viele Einrichtungen verfügen im Übrigen schon heute über Mechanismen des privaten Ansparens. Diese Instrumente könnten ausgebaut und weiter genutzt werden mit dem Unterschied, dass die dabei zustande kommenden Summen tatsächlich mit den Sparkonten zu vergleichen sind, über die viele Peers nach dem Auszug verfügen, weil ihre Eltern oder Großeltern für sie gespart haben. Mit dem Unterschied, dass dieses Polster selbst erarbeitet ist und sie niemandem dafür dankbar sein müssten. Wie cool wäre das? 

Kostenheranziehung
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